Moderne Informations- und Kommunikationstechnologien lassen sich in der Medizin vielfältig nutzen, um die Behandlungs- und Betreuungsprozesse von Patienten zu unterstützen. In Deutschland nimmt das Thema Electronic Health gerade Fahrt auf: Das berichtet Dr. Cord Schlötelburg, Experte für diesen Fachbereich beim Verband der Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik (VDE).

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Dr. Cord Schlötelburg 

Herr Dr. Schlötelburg, wie definieren Sie den Begriff Electronic Health?

Eine verbindliche Definition gibt es nicht: E-Health ist eher ein Sammelbegriff, den man im engeren und im weiteren Sinn verwenden kann. Im weiteren Sinne würde ich darunter alle elektronischen oder digitalen Technologien, Komponenten und Hilfsmittel fassen, die sich zur Verbesserung der medizinischen Versorgung nutzen lassen. Da gibt es ganz viele Beispiele, von der elektronischen Gesundheitskarte über Kommunikationssoftware für Online-Sprechstunden bis hin zum Implantat, das mit dem behandelnden Arzt Daten austauscht.

 

Mit E-Health im engeren Sinne ist üblicherweise die Telematik-Infrastruktur gemeint, die möglichst alle Beteiligten im Gesundheitssystem sicher miteinander vernetzen soll: Jemand geht zum Arzt, bekommt etwas verschrieben und das Rezept ist zum Beispiel elektronisch verfügbar. So erreicht diese Information gleichzeitig alle Stellen, für die sie relevant ist. Letztlich geht es um das Erheben, den Transfer und die intelligente Nutzung medizinischer Daten.

Wo steht Deutschland in Bezug auf die Kombination von Informations- und Kommunikationstechnologien mit Medizin im weltweiten Vergleich? 

Da stehen wir sicher nicht auf den Spitzenplätzen, wenn wir vergleichbare Industrienationen betrachten. Als Vorzeigebeispiele gelten Kanada und Dänemark, wo die Politik frühzeitig gesetzliche Grundlagen geschaffen hat, die besser gewirkt haben als bei uns. Das führt dazu, dass sich E-Health nun im dortigen Gesundheitswesen durchsetzt – zumal die beteiligten Akteure die Vorteile sehen. Das gilt sowohl für die Patienten als auch für das medizinische Personal und die Einrichtungen im Gesundheitssystem.

 

Es braucht mit Blick auf die gesetzgeberische Ebene geeignete Player, die das Ganze umsetzen. In vielen Ländern ist das üblicherweise eine leitende Behörde. In Deutschland läuft es anders, weil wir hier die Selbstverwaltung mit den jeweiligen Organen wie gesetzliche Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigungen haben. Wenn es da nicht auf allen Ebenen entsprechende Anreize gibt, eine Neuerung umzusetzen, kann es schon mal länger dauern.

Neue Gesetze sorgen für Beschleunigung

Wurden oder werden in Deutschland in Bezug auf E-Health Chancen vertan oder Trends nicht erkannt?

Ich glaube schon, dass alle Seiten früh die technischen Möglichkeiten und deren Vorteile gesehen haben. Aber es ist nicht gelungen, das Thema E-Health mit den Akteuren, Strukturen und Anreizsystemen in unserem Gesundheitswesen zügig auf den Weg zu bringen. Außerdem ist in den vergangenen Jahren nicht ausreichend ins Gesundheitssystem investiert worden – insbesondere auch in die Geräte- und IT-Infrastruktur. Zuletzt ist allerdings mehr Tempo in die Sache gekommen, unter anderem durch neue gesetzliche Regelungen wie das Krankenhauszukunftsgesetz, das Digitale-Versorgung-Gesetz oder das Patientendaten-Schutz-Gesetz. Patienten sollen ab Anfang 2021 unter anderem die Möglichkeit bekommen, eine elektronische Patientenakte zu erhalten, auf der zum Beispiel elektronische Rezepte und Medikationspläne verfügbar sind. Das sind wichtige Schritte und ich bin guter Hoffnung, dass es jetzt schneller vorangeht.

Welche Vorteile bietet E-Health sowohl Patienten als auch Ärzten?

Ein riesiger Vorteil ist, dass medizinische Daten fließen und durchgängig allen Beteiligten zur Verfügung stehen, zum Beispiel den verschiedenen behandelnden Ärzten. Das erleichtert die Behandlungs- und Betreuungsprozesse und ist damit gut für die Patienten. Ein zweiter Punkt, und da geht es dann Richtung Telemedizin: Arzt und Patient müssen nicht mehr am selben Ort sein. Gerade in ländlichen Regionen, die in Bezug auf bestimmte Qualifikationen unterversorgt sind, können Fernbehandlungen eine große Hilfe sein. Das betrifft die klassische Video-Sprechstunde beim Hausarzt, aber auch den Austausch von Medizinern untereinander, wenn es zum Beispiel um fachärztliche Diagnosen oder Therapie-Empfehlungen geht.

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Elektronische Sprechstunde

Medizintechnik weiter voranbringen 

Können Sie zwei konkrete Beispiele nennen?

Ein Klassiker ist der Radiologe, der sich Bilddaten anschaut und sich hierzu nicht an Ort und Stelle der Datenerhebung aufhalten muss. Bei entsprechender Telematik-Infrastruktur lassen sich die Ergebnisse der Auswertung an den behandelnden Arzt oder die behandelnde Ärztin transferieren, wo dann eine Diagnose erstellt wird. Ein anderes Beispiel: Die Bevölkerung wird immer älter, und damit steigt das Vorkommen von chronischen Erkrankungen wie Herzinsuffizienz. Wenn betroffene Patienten über einen telemedizinischen Dienst mit einer ärztlichen Leitzentrale verbunden sind, kommt diese vielleicht zu dem Ergebnis, dass ein Krankenhaus-Aufenthalt zunächst nicht erforderlich ist. Das spart erstens Kosten, entlastet zweitens die Krankenhäuser vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels und ermöglicht es drittens den Patienten, im vertrauten Umfeld zu bleiben.

 

Welche Schritte müssen jetzt gemacht werden, um E-Health in Deutschland voranzubringen?

Mit den genannten Gesetzen wurden gute und sinnvolle Weichen gestellt. Nun muss die Standardisierung von Daten vorangetrieben werden: Wir brauchen dringend Festlegungen hinsichtlich dieser Standards, sonst lassen sich die Daten nicht sinnvoll austauschen und auswerten. Mit Blick auf die Einführung der elektronischen Patientenakte wäre es aus meiner Sicht auch wichtig, die Werbetrommel zu rühren und die Menschen aktiv zum Mitmachen zu bewegen.

Die Kernherausforderung wird aber nach wie vor die Telematik-Infrastruktur sein, die gerade final ausgebaut wird: Bis Ende 2020 wurden die benötigten Konnektoren eingebaut, die die Datenanbindung technisch ermöglichen. Die Telematik-Infrastruktur muss direkt funktionieren, ohne dass zum Beispiel das Netz zusammenbricht oder durch Hacker kompromittiert wird. Und nicht zuletzt müssen wir einen Weg finden, wie Forschung und Entwicklung die gesammelten Daten nutzen können, um die Medizintechnik weiter voranzubringen.

 

Wo sehen Sie den Bereich E-Health in Deutschland in fünf Jahren?

Bis dahin werden die Menschen mitbekommen haben, dass die Einrichtung der Telematik-Infrastruktur eine elektronische Patientenakte, ein elektronisches Rezept und einen elektronischen Medikationsplan ermöglicht. Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung muss nicht mehr per Post verschickt werden, der Arztbrief wird nicht mehr gefaxt. Wenn die Patienten merken, wie praktisch das alles ist, werden wir hier einen Schub erleben und das Thema E-Health wird sich besser entwickeln. Ich bin optimistisch, dass all dies in fünf Jahren plastisch erfahrbar ist und wir bis dahin eine größere Akzeptanz erleben – auch für weitere Möglichkeiten, die der Bereich E-Health bieten kann.

 

Vielen Dank für das Gespräch.

Über den VDE:

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Über Cord Schlötelburg:

Dr. Cord Schlötelburg leitet den VDE Geschäftsbereich Health. Der VDE vermittelt Fachwissen, erarbeitet Normen, bietet Prüf- und Zertifizierungsleistungen und berät bei der Zulassung von Medizinprodukten und Software. Bis 2018 hat Cord Schlötelburg die Deutsche Gesellschaft für Biomedizinische Technik im VDE geleitet. Bis 2009 war Cord Schlötelburg als Berater bei der VDI/VDE-IT GmbH und bis 2002 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Charité in Berlin tätig.

Text: Anne-Katrin Wehrmann

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