Entdeckerin der springenden Gene
Menschen
Menschen
Mit ihren revolutionären Forschungsergebnissen war die Zytogenetikerin Barbara McClintock ihrer Zeit weit voraus. Für die Entdeckung der „springenden Gene“ oder Transposons auf DNA-Chromosomen im Mais erhielt sie erst Jahrzehnte später den Nobelpreis. Molekular und Mikrobiologie, Humangenetik und Gentechnik, Medizin und Landwirtschaft: Ihre Erkenntnisse beeinflussen die moderne Wissenschaft.
Wir schreiben das Jahr 1983, als die 81-jährige Zytogenetikerin Barbara McClintock auf der Nobelpreis-Pressekonferenz im für sie typischen Outfit erscheint – mit Arbeitshose, Herrenhemd und Nickelbrille. Sie soll die Auszeichnung in der Disziplin Medizin oder Physiologie erhalten. Damit ist McClintock die erste und bis heute einzige Gewinnerin in dieser Kategorie, die den Preis mit niemandem teilen muss. Die späte Ehre rund vierzig Jahre nach ihrer Entdeckung der „springenden Gene“ kommentiert sie ebenso trocken wie selbstbewusst: Es habe so lange gedauert, weil niemand ihre Erfahrung gehabt habe. Ihr tiefes, intuitives Verständnis für Pflanzen ist zeitlebens Leidenschaft und Erfolgsgarant zugleich, obwohl die Wertschätzung für ihre Arbeit mitunter auf sich warten lässt. Ihre Erkenntnisse sind jedoch bahnbrechend und nachhaltig zugleich. Noch heute beeinflusst McClintocks Chromosomenforschung die Life Sciences und damit sämtliche Fachgebiete, die sich mit Strukturen und Prozessen von Lebewesen beschäftigen, von der Biologie über die Humangenetik bis zur Veterinärmedizin.
Ihr Vater ist Arzt, ihre Mutter Künstlerin, sie selbst ein burschikoses, jazzbegeistertes, introvertiertes und vor allem naturaffines Mädchen. Geboren am 16. Juni 1902 in Connecticut als drittes von vier Kindern, wird Barbara McClintock von ihren Eltern frei und auf Augenhöhe erzogen, damals eher unüblich. Dennoch fürchtet die eigentlich freigeistige Mutter um die Heiratschancen der Tochter, als diese nach dem HighschoolAbschluss in Brooklyn als eine der ersten Frauen das Studienfach Agronomie (Landwirtschaft) an der Cornell University in Ithaca (New York) aufnimmt. Im Juni 1923 schließt sie das Studium mit Schwerpunkt Pflanzenzüchtung und Botanik mit einem Bachelor ab, 1925 folgt der Master, 1927 der Doktortitel. Nach ihrer Promovierung sucht die ambitionierte junge Forscherin ihren Platz in der Berufswelt. Es soll einige Jahre dauern, bis die Zytogenetikerin fündig wird: In Cornell bleibt sie bis 1931 als Forscherin und Dozentin, wechselt dann für ein Stipendium an die University of Missouri, Columbia. Kurz verschlägt es sie ab November 1933 für ein zwölfmonatiges Forschungsstipendium der Guggenheim Memorial Foundation nach Berlin. Wegen der politischen Lage im Nationalsozialismus beendet sie ihren Aufenthalt jedoch vorzeitig. 1934 kehrt sie für zwei Jahre an die Cornell University in die Abteilung für Pflanzenzüchtung und Genetik zurück, bevor es sie für eine Assistenzprofessur erneut und dieses Mal bis 1942 an die MissouriUniversität verschlägt. Dann endlich kommt sie an dem Ort an, wo sie bis zu ihrem Tod leben und vor allem forschen wird, der Abteilung Genetik an der Carnegie Institution of Washington in Cold Spring Harbor auf Long Island im Bundesstaat New York.
Als gleichermaßen empathische wie scharfsinnige Naturbeobachterin gehört McClintock längst zu den weltweit angesehensten Koryphäen der Zytogenetik, der Lehre von der Struktur und Funktion der Chromosomen. Schon 1931 hatte sie als Erste alle zehn Maischromosomen entschlüsselt. In Cold Spring Harbor führt sie ihre akribischen Untersuchungen als Teil eines Forschungsteams fort; sie untersucht die DNA im Mais unter dem Mikroskop mit Hilfe eines Quetschpräparats. Dieses Vorgehen ist viel genauer als die bisher übliche Schnitttechnik. Ergänzend entwickelt sie neuartige Färbemethoden für Chromosomen und beobachtet so die „springenden Gene“ oder Transposons (vom lateinischen transponere = versetzen). Die Entdeckerin selbst nennt sie „kontrollierende Elemente“. Die Fachwelt ist sich damals sicher, dass Genmutationen im Erbgut durch Vererbung und Umwelteinflüsse entstehen; das Genom an sich wird als fix betrachtet. Doch McClintock vermutet eine zusätzliche flexible Variable und fokussiert sich bei ihrer Suche auf die Unregelmäßigkeiten. Sie fragt sich, warum trotz gleicher Erbanlagen unterschiedliche, teils innerhalb eines Korns gefleckte Farb- und Größenausprägungen bei Mais entstehen. Beweise dafür, dass Transposons nach dem „Cut & Paste“Prinzip agieren, findet sie schließlich unter dem Mikroskop: DNATeile werden automatisch ausgeschnitten und an anderer Stelle wieder eingefügt. Nach der ersten Entdeckung 1944 bestätigt, kontrolliert und erweitert die unbeirrbare Wissenschaftlerin ihre Forschung, bis sie die Ergebnisse 1950 veröffentlicht. Die zu jener Zeit männlich dominierte Fachwelt reagiert negativ: McClintock wird belächelt, ignoriert und sogar für verrückt erklärt. Es sind Reaktionen darauf, dass ihre durch eigenhändige Züchtung und unter dem Lichtmikroskop gewonnenen Erkenntnisse vorherrschende Theorien auf den Kopf stellen. „Wenn du weißt, dass du Recht hast, ist es dir egal“, sagt sie später darüber. Erst mit dem Aufkommen der Molekularbiologie und dank neuer Bildgebungsverfahren wird die Theorie der springenden Gene zu Beginn der 1980erJahre bestätigt. Indem transponierbare Elemente isoliert und in Organismen wie Fruchtfliegen, Hefe und letztlich im Menschen nachgewiesen werden, akzeptiert die Fachwelt sie schließlich als allgemeines und bedeutendes Phänomen.
Mittlerweile wurde nachgewiesen, dass es Transposons in der von McClintock entdeckten „Cut & Paste“-Variante, aber auch als „Copy & Paste“Version gibt. Die Teile werden dabei nicht ausgeschnitten, sondern kopiert, um an anderer Stelle zum Einsatz zu kommen und so den Genpool zu beeinflussen. Zudem ist heute bekannt: Es herrscht ein ständiger Wettbewerb zwischen Genom und Transposons. Letztere machen etwa die Hälfte des Erbgutes aus und wollen nur eines – sich vermehren. Genmutationen können zu Krankheiten wie Krebs oder Alzheimer führen, ein gesunder Organismus verhindert sie. Transposition hat jedoch auch positive Aspekte. So sind durch Transposons verursachte Mutationen die Voraussetzung für Artenvielfalt und ermöglichen die Anpassung an sich verändernde Bedingungen. Gezielt eingesetzt, kann die Transposition beispielsweise in der Zucht von widerstandsfähigen Pflanzen dazu beitragen, mit veränderten Umweltbedingungen klarzukommen oder resistenter zu sein; dies ermöglicht die Reduktion von Pestiziden.
Im Oktober 1983 erfährt die 81jährige Barbara McClintock, die kein Telefon besitzt, aus dem Radio von ihrer bevorstehenden Nobelpreisverleihung, der Krö nung ihrer zahlreichen Wissenschaftsauszeichnungen. In ihrer Dankesrede blickt sie zurück: „Mein Verständnis des Phänomens, das für rasche Veränderungen der Genaktivität verantwortlich ist, einschließ lich der vielfältigen Ausprägungen, die sowohl bei Pflanzen als auch bei Tieren zu beobachten sind, war für die damalige Zeit viel zu radikal.“ Doch anstatt sich zu ärgern, habe sie die wissenschaftliche Ignoranz und das spärliche Interesse an ihrer Person genossen. Dies habe ihr ermöglicht, ihre Forschungen ohne Unterbrechung fortzusetzen, „und zwar aus purer Freude an ihnen“. Die auf den ersten Blick oft zurückhaltende, im Grunde aber selbstbewusste, humorvolle und spitzfindige Frau bewahrte sich stets ihre offene, kindliche Neugier. Barbara McClintock widmete ihr Leben der Arbeit, trotz der Hindernisse, die Frauen damals bei der Entwicklung einer akademischen Karriere begegneten.
Text: Kerstin Radtke
Fotos: Science Photo Library / American Philosophical Society; IanDagnall Computing / Alamy Stock Foto; Science Photo Library / American Philosophical Society